Vorbereitung

Als ich am Abend des 22. August meinen Koffer packte, ging ich gedanklich allen Aktivitäten und Unternehmungen nach, die ich für den Urlaub geplant hatte. Anschließend packte ich für diese Aktivitäten notwendige Gegenstände ein und versuchte keine wichtigen Dinge vergessen.

Beim Packen fiel mir ein, dass es fast unvermeidlich ist, etwas nicht zu vergessen.

Es ist mittlerweile eine Gesetzmäßigkeit, dass ich mich erst an etwas ganz Wichtiges erinnere, wenn ich schon unterwegs oder bereits angekommen bin.

Dann überlege ich, wie ich mit dem, was ich dabei habe, das ersetzen kann, was ich nicht dabei habe.

Ja, die Gegenstände, die meinen Alltag oder mich ausmachen, sollen vollständig sein, sonst bin ich unruhig gestimmt.

Wie meine Oma immer ironisch betonte, verwandelt sich meine Unruhe immer in eine philosophisch-pessimistische Ansage, die folgendermaßen lautet: „So nehmen wir die Welt wahr: Wir sammeln die Dinge um uns herum und irgendwann beschließen wir, dass wir ohne diese Gegenstände nicht existieren können.“

Das Gute an einer solchen Situation ist, dass man auf der Reise die eigene Kreativität und Flexibilität auspacken und zur Probe stellen kann, um mit einem unvollständigen „Ich“ zu funktionieren.

Jetzt beruhige ich mich: Ich habe meine Fotokamera vergessen, dafür habe ich 5 Kleider mitgenommen, die ich weder in Montpellier noch in Berlin anziehen werde. Das macht aber nichts! Hauptsache ist, dass die Anmerkung meiner Oma doch nicht gerecht war: Ich kann philosophisch werden und trotzdem optimistisch bleiben! Meine Canon-Kamera kann ich mit meinem IPhone ersetzen, die Fotos werden nicht so optimal, wie ich es gern hätte, dafür werden aber die Momente trotzdem eingefangen, und der Rest ist so oder so reine Interpretationssache.

Auf dem Weg zum Flughafen

In der U-Bahn beobachte ich die Fahrgäste. Das hat sich zu meiner Lieblingsbeschäftigung entwickelt. Anhand ihrer Bekleidung und Stimmung teile die Passagiere in kleine Gruppen ein. Ich sortiere sie nach ihrem Aussehen und dem Reiseziel. Dann suche ich nach einem interessanten Beobachtungsobjekt: Junge Studenten, ältere Herrschaften, langweilige Paare … in diesem Moment steigt eine Frau mit dichten und dicken schwarz-grauen Haaren ein, die sie sorgfältig und ordentlich gekämmt hat. Sie trägt eine Bluse mit kleinen Blümchen und einen farblosen Rock. (Die Farbe ihres Rocks sehe ich nicht, weil ich sie bei der Beobachtung nicht bis zum Rock anschaue, mein Blick bleibt an ihrem Gesicht hängen). Sie hat sich mir gegenüber hingesetzt. Auf ihrem Gesicht zeigt sich ein unendliches Leid, ihre Augen sind in einer tiefen Trauer versunken, ihr Blick ist verängstigt und scheu. Sie sitzt genauso, wie alle schüchternen Menschen dasitzen, auf der Kante des Sitzes. Sie will möglichst wenig Platz einnehmen, keinen stören und unauffällig sein.

Sie hat ganz bestimmt eine große Last zu tragen. Sie hält eine weiße, fast transparente Tüte mit einer schwarzen Aufschrift in der Hand fest.

Man sieht ihren Lebenslauf durch die durchsichtige Tüte. Vor allem ihr Bewerbungsfoto könnte eine eigenständige Geschichte werden. Wie sie auf dem Foto ausschaut und wie sie in der U-Bahn auf die Kante des Sitzes sitzt – enthüllen zwei unterschiedlichen Welten, in denen sie lebt. Nein, sie lebt nicht in beiden Welten, sondern nur in einer, in der sie mit der U-Bahn fährt. Wie sie auf dem Bewerbungsfoto aussieht, so wirkt sie jetzt nicht. Glücklich, selbstbewusst, entspannt und stolz, als ob sie eine Arbeit hätte, als ob sie beim Jobcenter keine Vereinbarungen hätte, als ob sie die gewünschte Aufenthaltserlaubnis hätte, als ob ihr Mann sie nicht geschlagen und verlassen hätte, als ob ihre Kinder sie respektieren und sich um sie sorgen würden, als ob sie nicht in der U-Bahn sitzen und zum Jobcenter fahren würde.

Im Flugzeug

Jetzt sitzen wir schon im Flugzeug. Hinter mir hat eine russische Familie ihren Platz gefunden. Sie sprechen leise. Wenn ich Russisch höre, beginnt mein Trauma aufzuwachen. Zwei, drei, vier, fünf ist ok, aber sobald es mehr als 10 russischsprechende Menschen sind, wird es kritisch. In diesem Moment reift der Gedanke in meinem Bewusstsein aus, dass eine Gefahr entstehen könnte. Ich nehme das russische Gespräch als ein Geräusch war, als ein Geräusch, welches den Krieg in Georgien begleitet hatte. Ja, ich habe selbst den Krieg als solchen nicht erlebt, nicht gesehen. Aber der Krieg hat viele Gesichter.

Kriegsgesichter

Ich hatte einen Nachbarn, der in meiner postsowjetischen, heruntergekommenen kriminellen Stadt lebte, Rockmusik liebte, mit Lederhosen und langen Haaren wie ein Rockstar durch die dunklen Straßen lief. Der sah nicht so aus wie die anderen, aber er ging in den Krieg genauso wie die anderen.

Als er zurückkam, trug er eine Militäruniform und eine komische Kette am Hals. Beobachtung war schon damals meine Leidenschaft. Ich näherte mich ihm und sah, dass auf der Kette Ohren hingen. Ohren der Menschen, die er umgebracht hatte. Das war das erste Gesicht des Krieges, was mich erschüttert hat. Die anderen Gesichter des Krieges waren viel harmloser als das erste.

Das waren geflüchtete Menschen. Meine neue Freundin Nanuli aus Gagra, mein neuer Nachbar Badri aus Sochumi, swanische Verwandte meiner Oma aus Ochamchire und Gagra. Sie hatten keine Ohrenketten, dafür aber viele Geschichten, mit den Gerüchen und Geschmäcken. Wie schön Abchasien war, was für eine wunderschöne Natur es hatte. Das waren neue Geschichten der Menschen, die hier ein neues Leben angefangen haben. Es gab eine Familie, der meine Mutter in ihrem Elternhaus ein Zimmer überlassen hatte. Es waren Gesichter, Geschichten und Bilder, dessen Themen der Krieg gestaltet hatte.

Die Traumabestätigung

Als Kind verband ich den Begriff Krieg mit Russland und als Erwachsene bestätigte sich dieses Kindheitstrauma einmal mehr im Jahre 2008. . Ich saß in Potsdam auf einem weißen Ikea-Sofa, sah fern und hasste die Welt. Hasste die Welt, die Georgien nicht hörte, Georgien nicht half und dem Land keine Chance zur Erklärung und Reflexion gab.

Meine Freundin Mari rief mich an und erzählte, dass sie auch grade das Haus von ihren Eltern im deutschen Fernsehen sah. Das Haus, in dem sie groß geworden ist, war zerstört. Ein Journalist berichtete, dass die georgischen Truppen ossetische Dörfer überfallen hatten … und meine georgische Freundin sah im Hintergrund das Haus ihrer Eltern, bombardiert von den russischen Truppen.

In diesem Moment sagte sie, dass so ein kleines Land wie Georgien nie die Stimme gegen Russland hätte erheben dürfen. Ihre geflüchteten Eltern starben in einem Jahr nach dem Augustkrieg 2008.

Sie haben ihren Verlust und das Leben in einem Flüchtlingsdorf, in dem alle Häuser ein rotes Dach hatten, nicht verkraftet.

Als ich 2008 den gefeierten Medienkrieg  Russlands im deutschen Fernseher sah, habe ich an der Universität Potsdam Kulturwissenschaft und Russistik studiert und hatte dort mehrere russische Freundinnen und Freunde gefunden.

Mit den Russinnen und Russen habe ich eine besondere Beziehung aufgebaut. Wir sprachen die gleiche Sprache. Eine Sprache unserer Vergangenheit, die aus den gleichen Bildern, Trickfilmen, Feiertagen und Musik bestand. Die gleiche Vergangenheit verband uns im Ausland ausgezeichnet gut.

Gleiche Vergangenheit

Mein Leben besteht aus zwei Teilen: vor Deutschland und seit Deutschland. Als Lela mit 24 nach Deutschland kam, nahm sie die Lela, die in Georgien gelebt hat, natürlich mit.

Ich bin seit 14 Jahren in Deutschland, und in 10 Jahren wäre ich genauso lange in Deutschland, wie lange ich in Georgien gelebt habe, und zwar 24 Jahre.

Aber 24 Jahre sind manchmal mehr als 24 Jahre.

Es könnten daher auch 100 Jahre vergehen und die 24-jährige Lela aus Georgien wird bestimmt immer älter sein als 100-jährige Lela aus Deutschland.

Die Erlebnisse und Beziehungen, die ich in diesen 24 Jahren erlebt habe, wurden abgebrochen und konserviert. Diese georgischen „Mitgiften“ könnten und müssten nie ein Teil meines deutschen Alltags werden. Die Beziehungen mit den Menschen und mit der Welt, die ich vor 14 Jahren verlassen habe, wurden konserviert. Aber sobald ich in die Heimat reiste oder meine damaligen Freund*innen traf, setzten sich die Konversationen sofort fort. Die Kommunikation wurde aus einem  gefrorenen Punkt mit einer Intensivität fortgesetzt als wäre sie nie unterbrochen worden.

Es ist wahnsinnig angenehm. Diese Lela, die in mir lebt, die ich aus Georgien mitgenommen habe, die mal schläft, mal mich nervt, mal mich ärgert, lässt mich verstehen, dass sie lebenswichtig für mich ist.

Sie wacht auf, um den alten Freund*innen viele lustige und traurige Geschichte zu erzählen. In diesem Moment wird mir klar, wie sie geliebt und vermisst wird.

Genau diese Erwartung habe ich heute. Ich treffe eine Freundin in zwei Stunden, die ich seit 15 Jahren nicht gesehen habe. Wir haben nicht nur eine gemeinsame Vergangenheit, sondern lachen auch über gleiche Sachen, wir verstehen einander ohne Worte. Nichtsdestotrotz mögen und tragen wir sehr unterschiedlichen Schmuck:  Sie mag zarte, kleine Ohrringe, ich mag bunte und große, wie Französinnen im Flugzeug, und wie die Frau aus der U-Bahn. Wir alle lieben Schmuck.

Etwas verbindet uns immer und dieses Etwas kann manchmal mehr und wichtiger werden als die Nationalität und die Sprache. Etwas Uhrmenschliches in uns, was vielleicht nicht von außen beeinflusst wurde. Was keine Vergangenheit hat. Deshalb ist manchmal auch nicht wichtig, wer vor mir und hinter mir sitzt, wer was spricht und wer was trägt. Wichtiger ist, dass wir alle landen.

Lela Chilingarishvili

August, 2018.