Buchempfehlung: Peter Handke „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

Nichts ist beständig, außer meiner Vorstellung von den Gegenständen.

Wenn ich sage, „der Stuhl,“ so stelle ich mir eine Mind-Map mit möglichen Verknüpfungen vor: 

Stuhl – sitzen – bequem – (Subjekt – Prädikat – Adjektiv)

oder ich denke noch weiter: 

Holz – Küche – Essen – Büro – schreiben

Die Assoziationen, die ich mit dem Gegenstand Stuhl erzeuge, stellen mein Wissen über diesen Gegenstand und meine Relation zwischen mir und dem Stuhl dar.

Dann erkenne ich, dass ich und die Gegenstände, die ich wahrnehme, wirklich existieren.

Ist diese Ordnung zwischen mir und den Gegenständen, oder zwischen den Seienden beständig?

Ist die Wahrnehmung eines Gegenstandes immer mit dessen Semantik verbunden? 

Geben die zusammengesetzten Buchstaben einen Inhalt, der beständig ist, vor?

Wie kommen wir auf die Bezeichnungen, auf die Symbole, die eine Bedeutung tragen und für unsere Vorstellung bestimmte Codes enthalten?

Funktionieren diese Codes immer? Funktioniert die Sprache als Kommunikationsmittel immer?

Was passiert, wenn sie nicht mehr funktionieren?

Das sind die Fragen, die ich mir gestellt habe, nachdem ich die Peter Handkes Erzählung „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ gelesen habe.

Hier findest Du die Auszüge, die mir diese Denkanstoße gegeben haben:

„Mit geschlossenen Augen überkam ihn eine seltsame Unfähigkeit, sich etwas vorzustellen. Obwohl er sich die Gegenstände in dem Raum mit allen möglichen Bezeichnungen einzubilden versuchte, konnte er sich nichts vorstellen; nicht einmal das Flugzeug, das er gerade landen gesehen hatte und dessen Bremsgeheul jetzt auf der Piste er wohl von früher wiedererkannte, hätte er in Gedanken nachzeichnen können. Er machte die Augen auf und schaute einige Zeit in eine Ecke, wo sich die Kochnische befand: er prägte sich den Teekessel ein und die verwelkten Blumen, die aus dem Abwaschbecken hingen. Kaum hatte er die Augen geschlossen, waren ihm Blumen und Teekessel schon unvorstellbar geworden. Er behalf sich, indem er statt Wörtern für diese Sachen Sätze bildete, in der Meinung, eine Geschichte aus solchen Sätzen könnte ihm erleichtern, sich die Sachen vorzustellen. Der Teekessel pfiff. Die Blumen waren dem Mädchen von einem Freund geschenkt worden. Niemand stellte den Teekessel von dem Elektrokocher. »Soll ich Tee machen?« fragte das Mädchen. Es nützte nichts: Bloch machte die Augen auf, als es unerträglich wurde. Das Mädchen neben ihm schlief.

Bloch wurde nervös. Einerseits diese Aufdringlichkeit der Umgebung, wenn er die Augen offen hatte, andrerseits diese noch schlimmere Aufdringlichkeit der Wörter für die Sachen in der Umgebung, wenn er die Augen geschlossen hatte! ›Ob es daran liegt, dass ich gerade noch mit ihr geschlafen habe?‹ dachte er. Er ging ins Bad und duschte lange.“

Peter Handke, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1970), S. 18-19.

„Es kam ihm vor, als hätte ihn ein Stemmeisen von dem, was er sah, abgestemmt, oder als seien vielmehr die Gegenstände ringsherum von ihm abgehoben worden. Der Schrank, das Waschbecken, die Reisetasche, die Tür: erst jetzt fiel ihm auf, dass er, wie in einem Zwang, zu jedem Gegenstand das Wort dazu dachte. Jedem Ansichtig werden eines Gegenstands folgte sofort das Wort nach. Der Stuhl, die Kleiderbügel, der Schlüssel. Es war früher so still geworden, dass keine Geräusche mehr ihn ablenken konnten; und weil es einerseits so hell war, dass er die Gegenstände ringsherum sah, und andrerseits so still, dass keine Geräusche ihn davon ablenken konnten, hatte er die Gegenstände so gesehen, als ob sie gleichzeitig Reklame für sich selber seien. In der Tat war der Ekel ein ähnlicher Ekel, wie er ihn manchmal vor gewissen Reklameversen, Schlagermelodien oder Staatshymnen hatte, die er bis in den Schlaf hinein nachsprechen oder nachsummen musste. Er hielt den Atem an wie bei einem Schluckauf. Beim Einatmen kam es dann zurück. Wieder hielt er den Atem an. Nach einiger Zeit half es, und er schlief ein.

 Peter Handke, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1970), S. 52.

Lela Chilingarishvili

19.06.2020